Jochen Klepper – Der Eremit

Er ist den stillsten Weg gegangen,
der zu dem Grund des Lebens führt
und ohne Willen und Verlangen
nur noch den Sinn im Un-Sinn spürt.

Er fand das Ende aller Fragen
und ist von Stummheit ganz umhüllt,
er duldet weder Angst noch Klagen
und liebt, was ihm die Nähe füllt.

Sein Leben ist in sich geschlossen,
allein noch mit ihm selbst befasst.
In diesem Kreise, unverdrossen,
trägt er der anderen Menschen Last.

Jochen Klepper – Der Heilige

Man hat ihn mit lastenden Mänteln behängt,
mit bunten, befleckten und reinen.
Er trug sie geduldig, das Antlitz gesenkt,
und nahm sich von allen nicht einen.

Jetzt hat er den letzten beiseite gelegt:
den Ruhm – und nun ist er befreiter.
Er wartet, von nichts mehr berührt und bewegt,
wie Jakob an Fuß seiner Leiter.

Jochen Klepper – Der Prophet (2)

Kein Prophet sprach: „Mich Geweihten sende!“
Eingebrannt als Mal war es in allen:
Furchtbar ist dem Menschen, in die Hände
Gottes des Lebendigen zu fallen.

Kein Prophet sprach: „Mich Bereiten wähle!“
Jeder war von Gottes Zorn befehdet.
Gott stand dennoch jedem vor der Seele,
wie ein Mann mit seinem Freunde redet.

Kein Prophet sprach: „Gott, ich brenne!“
Jeder war von Gott verbrannt.
Kein Prophet sprach: „Ich erkenne!“
Jeder war von Gott erkannt.

Jochen Klepper – Der Prophet (1)

Weil sein Antlitz helle Angst entstellte,
er vergehe ganz vor Gottes Leben,
ward er Träger eines Angesichts,
das von nun an einer Menschheit gelte.

Weil sein Mund, wie jenseits der Gebärde
und an keinen Laut mehr hingegeben,
ohne Worte sagte: „Wir sind nichts“,
hieß er Stimme unserer armen Erde.

Jochen Klepper – Leben

Ich weiß nicht, hat es Sinn
und lohnt es, dass ich lebe,
nur weil mein Herz noch schlägt.
Ich weiß nur, dass ich Rebe
voll schweren Weines bin.

Ich weiß nicht, soll ich sein.
Ich weiß nur, dass die Erde
mich Korn im Schoße trägt,
da ich zum Brot werde.
Gott spricht aus Brot und Wein.

Jochen Klepper – Zahlen

Um mir ein Bildnis meines Seins zu malen,
errechne ich tagtäglich neue Summen.
Dann setzt Gott Seine Zeichen vor die Zahlen,
und was mir galt, hat künftig zu verstummen.

Ich sehe meine Ziffern rasch verbleichen,
Was ich auch schrieb, hat seinen Sinn verloren.
Und aus der Wirrnis werden Gottes Zeichen
als einziger Wert, der morgen gilt, geboren.

Jochen Klepper – Ecce Homo

Wir leben alle zwischen Nacht und Nacht,
und was am Tage einer weint und lacht,
ist nur ein Zufall zwischen den Gesetzen.

Wir leben hin aus Hunger und aus Blut,
im Freuen böse und im Leiden gut,
man kann den einen für den anderen setzen.

Wir tragen alle erst ein Ja ins Sein,
verarmen alle an des Todes Nein,
sind gleich mit so verschiedenen Gesichtern.

Wir wachen ängstlich zwischen Schoß und Grab.
Ein Dunkel löst das andere Dunkel ab,
Inmitten liegt ein wirres Spiel von Lichtern.

Jochen Klepper – An meinen Bruder Billum zum 15. Geburtstag

Mir scheint, du wirst nur selten weinen.
Zur Stunde der geheimen Tränen
soll dir voll Sanftmut widerscheinen,
was heut Besitz ist, morgen Sehnen:

Die Hyazinthen, Ostereier,
die Lichter und ein weißer Hase,
ein Buch, ein Spiel – die süße Feier
der Veilchen in dem Bernsteinglase.

Den Glanz, der über den Geschenken
von Bildern lächelt, Leuchtern, Stühlen,
vom Secretair, von Bücherschränken,
wirst du einmal als Heilung fühlen.

Ich weiß nicht, unter welchem Namen
dir Gott das Heer der Schmerzen sendet.
Sie sind gewiss, als ob sie kamen,
von Ewigkeit dir zugewendet.

Jochen Klepper – Bauerngebet

Nun lege ich in Gottes Hand
mein graues Haus, mein grünes Land
und was auf meinen Feldern reift.

In Gottes Hand mein Weib am Herd,
im Stall das Lamm, die Kuh, das Pferd –
das Kind, das nach dem Milchnapf greift.

In Gottes Hand den Fisch im Teich!
Und alles zähl zu seinem Reich,
sei Stern, der seine Füße streift!