Zinzendorf, Nikolaus von – Von der hohen Abkunft der Seele.

Seele, ach Seele, du kennest dich nicht:
Möchtest du lesen,
Wie du gewesen,
Und durch dies Zeugnis auch wieder genesen,
Prächtig entflammtes, nun schattiges Licht!
Aber, ach Seele, du kennest dich nicht!

Wäre dein Ursprung dir besser bekannt,
Möchtest du wissen,
Was dir entrissen,
Aber auch wiederum werden wird müssen;
Wahrlich, o Seele! du würdest entbrannt,
Wäre dein Ursprung dir besser bekannt!

Siehe, dein Vater, dein Schöpfer und Gut,
Hat dir gegeben,
Oben zu schweben,
Über den andern erschaffenen Leben;
Darum entsprangst du aus göttlicher Glut;
Gott war dein Schöpfer, dein Vater, dein Gut.

Seele! da warst du von oben gezeugt;
Die Kreaturen
Geben dir Spuren,
Ob auch in mancherlei Art und Naturen,
Wie sich doch alles zum Ursprunge neigt:
Seele! und du bist von oben gezeugt.

Sind doch die Kinder (man seh‘ sie nur an)
Denen geneiget,
Die sie gezeuget
Und unter ihre Gebote gebeuget;
Seele, so war es mit dir auch getan,
Also sahst du auch zum Vater hinan.

Jedes Geschöpf ist an Etwas gewöhnt,
Drinnen zu schweben,
Als seinem Leben,
Will auch dasselbige von sich nicht geben;
Seele! so hatt’st du dich aufwärts gewöhnt,
Und nach dem Gut aller Güter gesehnt.

Seele! ach, siehst du mit Ernste zurück:
Wird dein Gewissen
Sagen dir müssen,
Dass du dich los von dem Schöpfer gerissen;
o so erwäge dein ewiges Glück,
Seele! und eile zum Ursprung zurück!