Herman, Nikolaus – Von ungefärbter christlicher Liebe des Nächsten.

Ein wahrer Glaub Gotts Zoren stillt,
Daraus ein schönes Brünnlein quillt:
Die brüderliche Lieb genannt,
Dabei ein Christ recht wird erkannt.

2. Christus sie selbst das Zeichen nennt,
Dabei man sein Jünger erkennt.
In Niemands Herz man sehen kann,
An Werken wird erkannt ein Mann.

3. Ja, bei der Lieb man spüret frei,
Wer ein rechtschaffner Bruder sei.
Mit dem Herzen gläubt man an Gott,
Die Lieb fleißt sich seiner Gebot.

4. Die Lieb nimmt sich des Nächsten an,
Sie hilft und dienet Jedermann.
Gutwillig ist sie allezeit,
Sie lehrt, sie straft, sie gibt und leiht.

5. Die Lieb verhebt keim ihr Wohlthat,
Wem sie dient und geholfen hat;
Denn was sie thut, thut sie aus Pflicht,
Und thut sie viel, halb thut sies nicht.

6. Sie weiß, daß sie mehr schuldig ist,
Zu thun, und ihr noch viel gebrist(gebricht).
Drum rühmt sie nicht ihr Gütigkeit,
Sie hindert kein Undankbarkeit.

7. Obgleich ihr Viel erkennen nicht,
Was ihn oftmal zu gut geschicht,
Daran eim Christen wenig leit;
Die Lieb ist sein Schnur und Richtscheid.

8. Ein Christ seim nächsten hilft aus Noth,
Thut solchs zu Ehren seinem Gott,
Welcher von ihm solchs fordern thut,
Dank man ihm drum, so ists wohl gut.

9. Wo nicht, so kümmerts ihn nicht sehr,
Denn er sucht nicht sein Ruhm und Ehr.
Was sein rechte Hand reichet dar,
Deß wird die linke nicht gewahr.

10. Wer seim Nächsten dient auf Gewinn,
Der hat sein Lohn und Ruhm schon hin;
Denn solche auch Jüdn und Heiden thun,
Die nicht wissen von Gottes Sohn.

11. Den Lohn solln wir im Himmelreich
Warten, da wills Gott machen gleich,
Und Alls zahlen bei Carols Gwicht,
Was in seim Namen hie geschicht.

12. Wie Gott lässt scheinen seine Sonn,
Und regnen über Bös und Fromm,
So solln wir nicht allein dem Freund
Dienen, sondern auch unserm Feind.

13. Die Lieb ist langmüthig, freundlich,
Sie eifert nicht, noch blähet sich.
Gläubt, hofft, verträgt Alls mit Geduld,
Verzeiht gutwillig alle Schuld.

14. Sie wird nicht müd, fährt immerfort,
Kein sauern Blick, kein bitter Wort
Sie schießen lässt, nichts Args sie denkt,
Lügen und Unrecht sehr sie kränkt.

15. Dem Nächsten hält sie viel zu gut,
Ihrs Rechts sich oft verzeihen thut.
Sie bleibt standhaft in Ernst und Schimpf.
In böser Sach braucht sie ein Glimpf.

16. Sie kann verschweigen und verhörn,
Beschönt, was sie nicht kann erwehrn,
Gott geb, was man sag oder singt,
Zum Besten deut‘ sie alle Ding.

17. Darum die Lieb das Fürnehmst ist
Darauf sich fleißen soll ein Christ,
Dem Gsetz allein die Lieb gnug thut,
Dem Nächsten thut sie alles Guts.

18. O Herr Christ, deck zu unser Sünd,
Und solche Lieb in uns anzünd,
Daß wir mit Lust dem Nächsten thun,
Wie du uns thust, o Gottes Sohn.

Amen.