Carl Gerok – Morgenlied

In dieser Morgendämmerung,
Wie fühl ich mich so stark,
An Leib und Seele frisch und jung,
Erquickt bis in das Mark!
Wie süß die reine Morgenluft
Die Schläfe mir umhaucht,
Als wär in Edens Rosenduft
Ihr kühler Strom getaucht!

Wie friedlich glänzt am Himmelssaum
Der blasse Morgenstern,
Dieweil die Welt im dumpfen Traum
Noch schlummert nah und fern!
Und schau! wie nun im Purpurlicht
Die Sonne blitzt hervor!
Ist das des Himmels Pforte nicht
Und Edens goldnes Tor?

So musst auf seiner Wanderschaft
Dem Pilger Jakob sein,
Als er, gestärkt in Gottes Kraft,
Erwacht auf Bethels Stein.
„Wie heilig ist die Stätte hier,“
So rief er schaudernd aus,
Hier ist fürwahr des Himmels Tür
„Und hier ist Gottes Haus!“

Ja wie im Traum der Schläfer dort
Den Himmel offen sah,
So war der Engel Schutz und Hort
Auch mir im Schlummer nah;
So stiegen, da mein Leib geruht,
Die Engel niederwärts
Und gossen frischen Pilgermut
Ins abgelebte Herz.

Drum wird auch mir zum Heiligtum
Dies stille Kämmerlein,
Drum soll auch mir die Welt ringsum
Ein großes Bethel sein.
Drum schließ auch ich zu dieser Stund
Wie Jakob dort aufs Neu,
Mein Gott und Herr, mit dir den Bund
Der Kindeslieb und Treu.

Gib mir, wie du verheißen hast,
Mein Brot und mein Gewand,
Und führ in Tages Hitz und Last
Mich treulich an der Hand:
So will ich heut in Lust und Not
Dein frommer Pilgrim sein,
Und fröhlich dir am Abendrot
Mein Lob- und Danklied weihn.