Zinzendorf, Nikolaus von – Das selige Nichts.

Wie schwer ist’s, kennen lernen,
Was hier auf Erden ist,
Und Alles auszukernen,
Was ihr Gelehrten wisst:
Doch ist nicht auszugründen,
Wie schwer die Schule fällt,
Das edle Nichts zu finden,
Das Nichts, das Gott erwählt. (1. Kor. 1, 29.)

Soll man solch Nichts beschreiben,
So kömmt es darauf an,
Von sich gewiss zu gläuben,
Dass man Nichts ist noch kann,
Und dass man nicht begehret,
Hochangeseh’n zu sein,
Sich über Nichts beschweret,
Und sieht sein Elend ein.

Dies wird das Nichts genennet,
Erst, weil es Niemand hat,
Und wo man Menschen kennet,
Gibt ihm fast Keiner Statt;
Zum Andern, weil die Sinnen
Des, der so werden will,
Ganz leer zu sein beginnen,
Damit sie Gott erfüll.

Die Menschen sind beschaffen
Gleich einem Bettelmann,
Dem, wenn er eingeschlafen,
Von Wollust träumen kann,
Von königlichen Thronen,
Sieht aber, jetzt erwacht,
Sich in der Hürde wohnen,
Verhungert und veracht’t.

So meinen auch die Seelen,
So lange sie sich noch
Mit Phantasien quälen,
lind fliehen Christi Joch,
Sie seien hochgeboren,
Sie seien sehr gelehrt,
Und sind im Pfuhl verloren,
Und sind im Geist verkehrt.

Wenn aber Christi Liebe,
Die sich nach Seelen sehnt,
Durch Auferweckungstriebe
Die Augenlieder dehnt,
und lässt durch schmale Ritzen
Nur einen matten Schein
In diese Höhlen blitzen:
Dann fühlen sie die Pein.

Das Licht der Ewigkeiten
Darf nur mit voller Macht
Sich eine Bahn bereiten
Durch die Verstockungsnacht:
So siehet sich die Seele
In einem schnellen Blick
Entrückt der finstern Höhle,
und sehnt sich nicht zurück.

Da lernet sie erkennen
Die arme Kreatur,
Dass sie ein Nichts zu nennen
In eigener Natur:
Und soll ihr Tod und Hölle
Nicht stets entgegen zieh’n,
So muss sie auf der Stelle
Ihr eigen Wesen flieh’n.

Ach, ohne Jesu Liebe,
Dem Lichte alles Lichts,
Sind alle meine Triebe
Und ich selbst lauter Nichts!
So rufet die entblößte,
Die arme Seele aus;
Dann winket die Erlöste
Der Heiland in Sein Haus.

Da mag nun Jemand sagen,
Ob’s ihr noch möglich ist,
Auf eigne Kraft was wagen,
Und ohne Jesum Christ!
Nein, sie ist zu erfahren,
Sie weiß, was Ruhe kost‘,
Und sucht sich zu bewahren,
Und hält an Christi Trost.

Will sie was Gut’s beginnen,
So ruft sie Jesum an:
Der wirkt in ihren Sinnen,
Eh’s ihre Hand getan;
Ist’s nun zum Vorschein kommen,
So weiß die Seele wohl,
Wo sie es hergenommen,
Und Wem sie’s danken soll.

Ist dieser Grund geleget,
So brauchet man nicht mehr,
Dass man das Herz beweget,
Zu fliehen eigne Ehr‘,
Dass man von Demut sage,
Und was es sei, das Nichts:
Die Antwort auf die Frage
Ist jedes Kind des Lichts!

(1726.)