Gellert, Christian Fürchtegott – Nicht, daß ich’s schon ergriffen hätte;

Nicht, daß ich’s schon ergriffen hätte;
Die beste Tugend bleibt noch schwach;
Doch, daß ich meine Seele rette,
Jag ich dem Kleinod eifrig nach.
Denn Tugend ohne Wachsamkeit
Verliert sich bald in Sicherheit.

So lang ich hier im Leibe walle,
Bin ich ein Kind, das strauchelnd geht.
Der sehe zu, daß er nicht falle,
Der, wenn sein Nächster fällt, noch steht.
Auch die bekämpfte böse Lust
Stirbt niemals ganz in unsrer Brust.

Nicht jede Besserung ist Tugend;
Oft ist sie nur das Werk der Zeit.
Die wilde Hitze roher Jugend
Wird mit den Jahren Sittsamkeit:
Und was Natur und Zeit getan,
Sieht unser Stolz für Tugend an.

Oft ist die Ändrung deiner Seelen
Ein Tausch der Triebe der Natur.
Du fühlst, wie Stolz und Ruhmsucht quälen,
Und dämpfst sie; doch du wechselst nur;
Dein Herz fühlt einen andern Reiz,
Dein Stolz wird Wollust, oder Geiz.

Oft ist es Kunst und Eigenliebe,
Was andern strenge Tugend scheint.
Der Trieb des Neids, der Schmähsucht Triebe
Erweckten dir so manchen Feind;
Du wirst behutsam, schränkst dich ein,
Fliehst nicht die Schmähsucht, nur den Schein.

Du denkst, weil Dinge dich nicht rühren,
Durch die der andern Tugend fällt:
So werde nichts dein Herz verführen;
Doch jedes Herz hat seine Welt.
Den, welchen Stand und Gold nicht rührt,
Hat oft ein Blick, ein Wort verführt.

Oft schläft der Trieb in deinem Herzen.
Du scheinst von Rachsucht dir befreit;
Itzt sollst du eine Schmach verschmerzen,
Und sieh, dein Herz wallt auf und dräut,
Und schilt so lieblos und so hart,
Als es zuerst gescholten ward.

Oft denkt, wenn wir der Stille pflegen,
Das Herz im stillen tugendhaft.
Kaum lachet uns die Welt entgegen:
So regt sich unsre Leidenschaft.
Wir werden im Geräusche schwach,
Und geben endlich strafbar nach.

Du opferst Gott die leichtern Triebe
Durch einen strengen Lebenslauf;
Doch opferst du, will’s seine Liebe,
Ihm auch die liebste Neigung auf?
Dies ist das Auge, dies der Fuß,
Die sich der Christ entreißen muß.

Du fliehst, geneigt zu Ruh und Stille,
Die Welt, und liebst die Einsamkeit;
Doch bist du, fordert’s Gottes Wille,
Auch dieser zu entfliehn bereit?
Dein Herz haßt Habsucht, Neid und Zank;
Flieht’s Unmut auch und Müßiggang?

Du bist gerecht; denn auch bescheiden?
Liebst Mäßigkeit; denn auch Geduld?
Du dienest gern, wenn andre leiden;
Vergibst du Feinden auch die Schuld?
Von allen Lastern sollst du rein,
Zu aller Tugend willig sein.

Sei nicht vermessen! Wach und streite;
Denk nicht, daß du schon gnug getan.
Dein Herz hat seine schwache Seite,
Die greift der Feind der Wohlfahrt an.
Die Sicherheit droht dir den Fall;
Drum wache stets, wach überall!