Albert Zeller – Entwöhnen ist des Menschen ernstes Los

Entwöhnen ist des Menschen ernstes Los,
Gewöhnen und dann wiederum entwöhnen
Vom ersten Scheiden aus der Mutter Schoß
Bis zu dem letzten schmerzenreichen Stöhnen.

Am reinsten Duell der zarten Mutterbrust
Trinkt er des Lebens erste süße Züge;
Beschlossen scheint im engsten Kreis der Lust
All sein Verlangen bis zur Vollgenüge.

Hebt er den Blick, so ists zum Mutterblick;
In ihm liegt seine ganze Welt geborgen,
Sein jetziges, sein kommendes Geschick;
In ihm erwacht, entschläft er ohne Sorgen.

Kurz ist sein Glück, ihn trifft der zweite Schmerz,
Das zweite schon bewusstre Scheiden;
Wohl schließt die Mutter ihn noch fest ans Herz;
Doch muss er seine Lebensquelle meiden.

Er weint, er fleht, ach, einmal muss es sein;
Er sieht ihr Aug in hellen Tränen flimmern;
Sie drückt ihn an die Brust in süßer Pein,
Und darf nicht hören auf sein leises Wimmern.

Doch bald verschmerzt ist all sein Herzeleid,
Und neue Freude quillt ihm reich entgegen;
Blau ist der Himmel und die Erde weit,
Und Lust und Leben spielt auf allen Wegen.

Da fasst ihn neues und noch tiefres Weh;
Er muss das liebe Vaterhaus verlassen
Voll Angst und Not, wohin es mit ihm geh,
Und einsam ziehen unbekannte Straßen.

Doch neue Bande weben sich um ihn,
Und schlingen ihn in ihre engen Kreise;
Er möchte weilen, möchte vorwärts ziehn,
Und tausend Stimmen locken laut und leise.

Und immer heißer und gewaltger fasst
Ihn Lust und Leid mit allen seinen Sinnen;
Er seufzt und stöhnt und wähnt in jeder Last
Ein goldnes Kleinod siegreich zu gewinnen.

Wie einem Wandrer in der Wüste Glut
Am Horizont die klarsten Ströme fließen,
Und wenn er ihn erreicht und kraftlos ruht,
Die schönen Bilder in ein Nichts zerfließen;

Und, wenn er wirklich eine Quelle fand
Im fühlen Schatten fruchtbeladner Bäume,
Fort muss er wieder; denn kein Heimatland
Gibt es hienieden für die holden Träume.

Das Liebste kommt, das Liebste geht und stirbt,
Und wollt er tausendmal es fest auch halten;
Und Frucht und Blüte welket und verdirbt,
Und jeder Jugend drohet ein Veralten.

Was ihn gelockt und was ihn hoch entzückt
In Duft und Farben, Bildern, Worten, Tönen,
Es wird ihm weit und immer mehr entrückt;
Er fühlts, er muss der Erde sich entwöhnen.

Da greift er tiefer in die eigne Brust,
Und sieht die Fremdling daft in allen Dingen;
Er ist sich eines andern Ziels bewusst,
Und will und muss nach Glück und Frieden ringen.

Der bunte Schein der ganzen Sichtbarkeit
Verschwindet wie ein lichter Nebelschleier;
Er steht erstaunt vor einer Ewigkeit,
Und fasst sein Herz in ernster stiller Feier.

Zerrissen ist das schöne Zaubernetz,
Das ihm bis jetzt die ganze Welt gehalten;
Dafür sieht er ein göttliches Gesetz
In Sein und Werden und Vergehen walten:

Und einen Willen, stärker als die Welt,
Und eine Weisheit, die nicht zu ergründen,
Und eine Liebe, die ihn sicher hält
Hoch über der Vernichtung dunklen Schlünden.

So ringt er sich in Kampf und Schmerz und Not
Empor aus seiner düsteren Umnachtung,
Und schließt den Kreis vom Leben bis zum Tod
In einer tiefen seligen Betrachtung.