Übertragung von Celanos „De die iudicii“
1. Zorntag, grösster aller Tage,
Aller Bibeln ernste Sage,
Mit dem Feuer, mit der Waage:
2. Welches Heulen, welches Weinen,
Wenn Du einmal wirst erscheinen
Plötzlich, da wir es nicht meinen!
3. Eine Stimm’ wird sich erheben;
Die dann todt sind, die dann leben,
Sollen Red’ und Antwort geben.
4. Beide fahren sie zusammen,
Sehen sich bei Feuerflammen:
Wird er euch und uns verdammen?
5. Müssen stehn vor einem Buch:
Ach, sind wir auch in der Suche?
Oder angemerkt zum Fluche?
6. Jetzo wird der Richter sprechen,
Alle Siegel wird er brechen,
Die geheimsten Thaten rächen!
7. Ach, wie fürcht’ ich seine Ruthe!
Zeugt nicht Einer mir zu Gute?
Reinen selbst ist bang zu Muthe.
8. O du König solcher Schrecken!
Gnade kann allein mich decken.
Ich will dein Erbarmen wecken!
9. Hattest mich doch einst erkoren,
Bist doch ja für mich geboren.
Und ich wäre jetzt verloren?
10. Hast dich müd’ um mich gegangen,
Bist für mich am Kreuz gehangen,
Und das sollte nichts verfangen?
11. Wärest du denn bloss ein Rächer?
Gar kein, gar kein Gnadensprecher
Ueber reuige Verbrecher?
12. Noch ist nicht mein Spruch gefället;
Eh’ derselbe mich zerschellet,
Hör’ die Bitt’ an dich gestellet!
13. Hast Maria angeblicket,
Hast den Schächer selbst entzücket
Ich soll bleiben unerquicket?
14. O du Guter, Milder, Treuer,
Rette vor dem ew’gen Feuer,
Den du hast erlöst so theuer!
15. Zwar nicht auf mein Bitten steh’ ich,
Nein, zu deiner Gnade fleh’ ich,
Halte sie mich, sonst vergeh’ ich.
16. Du wirst scheiden, bannen, aechten,
Reisse mich noch aus dem Schlechten,
Rechts von dir zu den Gerechten!
17. Wenn die Bösen überwiesen,
Und den Flammen zugewiesen,
Sei ich in die Freud’ gewiesen!
18. Ach, ich schau die Höllenbrände,
Rufe, ringe meine Hände:
Mach es wohl mit mir am Ende!