Gerhard Tersteegen – Mein Erlöser, schaue doch,

1.) Mein Erlöser, schaue doch,
Wie mein armer Geist, verstricket,
Mit geheimen Banden noch,
Ganz bedränget und bedrücket:
Will ich los, so sinkt mein Herz
Bald in Ohnmacht niederwärts.

2.) Meine Bande mannichfalt
Tiefe Seufzer aus mir zwingen:
Zions Hülfe, komm doch bald!
Laß es mir durch dich gelingen;
Mache mich einst völlig frei
Von der Lüste Sklaverei.

3.) Zwar es hat mich deine Gnad
Groben Sünden längst entrissen.
Ich hab auch nach deinem Rat,
Schon zu wandeln mich beflissen,
Daß vielleicht ein andrer wohl,
Mich für fromm schon halten soll.

4.) Aber dein genaues Licht
Zeigt mir tiefer mein Verderben;
Und wie ich, nach meiner Pflicht,
Muß mir selbst und allem sterben,
Und in wahrer Heiligkeit
Vor dir leben allezeit.

5.) Dies ist auch mein Wille wohl,
Aber, ach! es fehlt Vollbringen;
Was ich auch verrichten soll,
Thu ich noch mit Last und Zwingen:
Seh ich dann mein Bestes an,
So ist’s doch nicht rein gethan.

6.) Schau, wie ich entblößet bin,
Wie mein Geist im Kerker (Elend) stöhnet;
Wie so inniglich mein Sinn
Sich nach Deiner Freiheit sehnet.
Ach! zerreiß den Himmel doch;
Ach! zerbrich des Treibers Joch.

7.) Ach, wo ist der neue Geist,
Den du wolltst den Deinen geben,
Der den Sünden uns entreißt
Und uns bringt dein reines Leben,
Der mit Herzenslust und Kraft
Alles in und durch uns schafft.

8.) Jesu! ach erbarm dich mein,
Laß mich nicht im Elend hangen;
Mach mich gründlich, frei und rein,
Nimm mein Herz dir ganz gefangen:
Komm, und werd mir innig nah,
Du hast mich erkaufet ja.

9.) Ach, wann wird mein Herze frei
Über alles sich erheben,
Und, in reiner Liebestreu,
Nur von dir abhänglich leben,
Abgeschieden, willenlos,
Von mir selbst und allem bloß!

10.) Komm, du lang verlangte Stund!
Komm, du Lebensgeist von oben!
Ach! wie soll mein froher Mund,
Jesu! deine Treue loben,
Wenn mich deine Liebesmacht,
Dir zu dienen, frei gemacht.

11.) Laß dein Evangelium
Mir Gefang’nem Freiheit schenken:
Ich will als dein Eigenthum
Mich in dein Erbarmen senken;
Ich will hoffen, warten, ruhn;
Du wollst alles in mir tun.

12.) Eignes Wirken reicht nicht zu,
Du musst selbst die Hand anlegen;
Ich will still sein, wirke du;
Dämpfe, was sich sonst will regen:
Kehr zu meiner Seele ein,
So wird mir geholfen seyn.

Quelle: Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen.
Dreizehnte Original-Auflage
Elberfeld 1826
bei Wilhelm Hassel

Komplettierte Fassung dieses Liedes