Eva von Thiele-Winkler – Hast du die Schattenpflänzchen gesehn

Hast du die Schattenpflänzchen gesehn,
die unbeachtet am Wege stehn,
verstaubt, zertreten und unbekannt?
Kein freundlicher Blick, keine helfende Hand,
kein Sonnenleuchten, das sie erquickt —
so stehen sie einsam, stumm und geknickt.
Wenn andere lachend vorübergehen,
sie bleiben immer im Schatten stehen.
Das Leben ist wie ein schwerer Traum,
und was sie leiden — man ahnt es kaum!
Ihr Schattenpflänzchen, hört auf zu weinen,
die „Gnadensonne“ soll hell euch scheinen,
was oft ihr im Herzen so heiß begehrt:
der Platz an der Sonne sei euch gewährt!

Die arme Alte, gebeugt von Last,
in Mühsal, Kummer, in Druck und Hast,
umhergestoßen, weil stets im Wege,
in kranken Tagen kein bißchen Pflege:
nur immer Arbeit in harter Not,
und ohne Liebe ein Stüddein Brot
soll es so bleiben die Lebenszeit?
Der Weg zum Grabe ist nicht mehr weit.
Kommt, laßt uns sie in die Sonne tragen!
Im hellen Stübchen verstummen die Klagen.
Da dürfen die müden Hände ruhn
und lassen andre die Arbeit tun.
Der Armstuhl wird an das Fenster gerückt,
damit sie die wärmende Sonne erquickt.
Der Vogel singt, und die Blume blüht,
und durch die Seele ein Ahnen zieht:
ist’s hier so schön schon, dann glaube ich —
Gott ist die Liebe — er liebt auch mich!

Und dann die Blinden, die ohne Licht
auf Erden wandeln. Sie sehen nicht
die grünen Felder, den Himmel blau,
nicht die mit Blumen bedeckte Au‘.
Trüb ist ihr Leben und oft recht schwer,
so ausgeschlossen und freudenleer.
Und dann noch die Sorge ums tägliche Brot,
der Kampf um das Dasein, die bittere Not!
Doch sehn sie auch niemals der Sonne Schein,
die Gnadensonne dringt doch hinein,
tief in die Seele mit stillem Leuchten,
daß sich vor Freude die Augen feuchten.
Drum sei auch ihnen ein Plätzchen beschieden
im Hause der Liebe, in Gottes Frieden.

Und was es sonst noch an Elend gibt
krank an der Seele und ungeliebt,
am Körper siech und die Glieder voll Schmerz,
dazu ein verbittertes, trauriges Herz!
Wie nötig sind da der Schwester Hände!
Sie machen dem Jammer bald ein Ende.
Da wird das Lager so weich gemacht,
daß der Körper Ruhe findet bei Nacht.
Ein freundliches Auge, ein tröstender Mund,
da schmilzt dann das Eis in des Herzens Grund.
Die Bitterkeit und der Trübsinn muß fliehen
und Friede und Freude die Seele durchziehen.
Ein stilles Leuchten, ein dankbarer Blick
gibt all die erfahrene Liebe zurück.

Das kann nur ein Wunder der Gnade sein:
Christus, die Sonne, leuchtet hinein,
vertreibt das Dunkel und bringt das Licht,
legt stillen Frieden aufs Angesicht.
Erlöst — errettet — vom Kummer befreit
und nach der Erde mit ihrem Leid
die große Hoffnung aufs ewige Leben —
was kann es Schön’res hienieden geben?

Eva von Thiele-Winkler – Herr, nahe dich

Herr, nahe dich, hilf uns die Last ertragen!
Die Wunde schmerzt, du hast uns sehr geschlagen.
Verstummen soll das Fragen und das Klagen;
bring du uns durch!

Du willst ja das Verwundete verbinden,
du hilfst uns auch das Schwerste überwinden
und auch im Dunklen deinen Ruhm verkünden,
bis daß es tagt.

Wir liegen vor dir mit zerbrochnen Herzen,
du kennst die Seelenangst, du fühlst die Schmerzen;
laß hell erbrennen unsres Glaubens Kerzen
und richt uns auf!

Wir wollen dir auch jetzt die Ehre geben,
wir weihen dir aufs neue unser Leben,
ob auch die Tränen fließen, Lippen beben —
gelobt seist du!

Eva von Thiele-Winkler – Nimm du Besitz von meinem ganzen Leben!

Nimm du Besitz von meinem ganzen Leben!
Der einz’ge Zweck sei: meines Gottes Ruhm!
Ich habe mich dir völlig hingegeben;
versiegle du aufs neu dein Eigentum!

Ach, fülle mich mit deiner ganzen Fülle,
du ew’ger Geist vom Vater und vom Sohn;
verkläre mir die Gottheit, nimm die Hülle
und weihe ihr mein ganzes Herz als Thron!

Vom Heil’gen Geist erfüllt, von ihm geleitet,
ihm zur Verfügung jeden Augenblick;
was immer auch für mich dies Wort bedeutet —
durch seine Gnade nehm‘ ich’s nie zurück!

Und sollte die Natur darunter sterben,
und kostete es meiner Seele viel —
was macht’s! Es gilt, das ew’ge Reich zu erben,
und vor mir leuchtet der Verklärung Ziel.

Eva von Thiele-Winkler – Lieben und Leiden

Das Leiden ist vom Lieben
Auf Erden nicht zu trennen,
Willst du das Lieben üben,
Lernst du das Leiden kennen.
Willst du das Leiden meiden,
So wird die Lieb vergehen,
Das Lieben und das Leiden
Muss hier zusammenstehen.

Es ist das Opferleben
Der Liebe wahres Wesen.
Wer sich nicht selbst will geben,
Wird nie den andern lösen.
Die Liebe fühlt die Schmerzen,
Sieht sie den andern leiden,
Sie kann aus ihrem Herzen
Des Nächsten Not nicht scheiden.

Die Liebe muss beim Wandern
Die Last der Brüder tragen,
Sie duldet für den Andern,
Lässt sich für andre schlagen.
Sie sieht mit tiefen Qualen
Rings um sich das Verderben.
Sie stirbt zu vielen Malen,
Sieht sie die andern sterben.

Nach Samariter Weise
Beugt sie sich tief hernieder,
Und findet auf der Reise
Des Herrn verlor’ne Brüder.
Sie trägt mit Liebesarmen
Sie in des Heilands Hürde,
Und legt in sein Erbarmen
Die schmerzhafte Bürde.

Mag auch das arme Leben
An fremdem Weh verbluten,
Ertrinkende zu heben,
Selbst sinken in den Fluten, —-
Was tut’s? Wenn nur die Liebe
Bis in den Tod kann lieben!
Wenn man dem heil’gen Triebe
Nur immer treu geblieben!

Dann werden grosse Fluten
Doch nimmer löschen können
Die heissen Flammengluten,
Die in der Seele brennen,
Die sich am Opferherde
Von Golgatha entzünden,
Und diese arme Erde
Mit Gottes Herz verbinden.

Darum lieber solche Schmerzen
Als alles Glück der Erden,
Und lieber Weh im Herzen
Als lieb- und leidlos werden.
Einst wird die Stunde kommen,
Da trennt sich Lieb vom Leide
Und, alles Weh entnommen,
Liebt sie in ew’ger Freude.

Rappard-Gobat, Dora – Durch Leiden zur Herrlichkeit